Strahlender Sonnenschein, blauer Himmel, rauschende Wellen – in diese schöne Atmosphäre fügt sich das Cape Coast Castle perfekt ein. Auf einer kleinen Anhöhe erhebt sich majestätisch die weiße Burg mit Blick auf das Meer.
Fröhlich munter erreichen wir mit unserem Bus das Castle und bekommen eine Führung. Ein paar Informationstafeln erläutern uns die Geschichte der Festung. Dass es um Sklavenhandel geht, ist uns schon vorher klar. (Post-)Kolonialismus, Othering, Rassismus – alles Themen, über die wir hier immer wieder gesprochen haben. Eine Touristenattraktion, die sein muss.
Wir gehen zunächst in die Kerker der männlichen Sklaven (Male Slave Dungeon). Der breite Weg führt in die Tiefe. Ein paar Lichter beleuchten notdürftig die Gemäuer. Wir bleiben vor dem Ersten der fünf Kerker stehen. Während der Guide anfängt, den Aufbau der Kerker zu erklären, zieht sich in mir alles zusammen und eine unsichtbare Last legt sich auf mich. Ich kann förmlich das Leid all der Männer spüren. Still läuft mir eine Träne die Wange herunter. Wir gehen in den ersten Kerker rein. Der Guide erzählt von 200 Männern pro Kerker, 1000 insgesamt. Kaum Licht, kein Platz, Angst, Krankheit, Tod.
Er macht das Licht aus – zur besseren Vorstellung. Ich stehe allein in fast kompletter Dunkelheit. Das ist zu viel für mich. Ich kann die Tränen nicht aufhalten. Vor meinem geistigen Auge sehe ich all die Jahrhunderte des Leids und spüre sie in mir. Leonie kommt zu mir und umarmt mich fest, während mich meine Gefühle überwältigen.
Über dem Dungeon war früher eine Kirche. Durch einen Tunnel konnten die Gefangenen, den ihnen unbekannten Gottesdienst mitanhören. Der Gedanke an diese Dreistigkeit treibt mir jedes Mal aufs Neue Tränen in die Augen – vor Wut, vor Trauer, vor Unglauben und Fassungslosigkeit. Wie kann ein Gotteshaus buchstäblich auf so viel Leid erbaut werden? Es ist mir unbegreiflich.
Das Schlimmste: Das ganze System funktioniert. Von 1000 Männern sterben 15 pro Woche. Eine Zahl, die für die Kolonialherren keinen Verlust darstellt. Der Markt floriert. Millionen von Menschen werden zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert versklavt und an Nord- und Südamerika verkauft.
„The Door of No Return“ – Von diesen Menschen hat niemand jemals seine Heimat wiedergesehen. Ohne Würde wurden sie noch nicht mal durch das Tor zum Hafen geführt, sondern durch eine kleine Klappe getreten – einer nach dem anderen. Die, die die drei Monate im Cape Coast Castle überlebt haben, fallen geschunden und gequält in eine neue Welt, die sie nicht mit offenen Armen empfangen wird.
Wir schauen uns die Kerker für 500 Frauen an. Die Konditionen sind genauso schlimm. Hinzu kommen Vergewaltigung und ungewollte Schwangerschaften durch die Kolonialherren. Die Mischlingskinder stehen zwischen den beiden Welten – sie sind nicht gefangen, aber auch nicht frei. Obwohl sie beschult werden, ist doch klar, dass sie nie zu den Weißen dazugehören werden und auch nicht dazugehören sollen.
Die „Punishment“ Zellen waren für die Rebellen unter den Sklaven. Wer sich wehrte, wurde von den anderen getrennt und in eine andere Zelle gebracht. Keiner dieser Männer hat diese Zelle lebend verlassen. Für ihre Würde haben sie mit dem Leben bezahlt. Die Frauen wurden weiterhin am Leben erhalten und nach zwei Wochen zurück zu den anderen gebracht. Sie sollten nicht sterben, sondern nur gebrochen werden. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Im Angesicht dieser Grausamkeiten breche ich noch einmal in Tränen aus. Ich bin völlig fertig. Diesmal drückt mich Zora und Leonie weicht mir nicht mehr von der Seite. Doch ein Abbruch der Führung ist für mich unvorstellbar. Das bin ich all den Menschen, die hier gelitten haben, schuldig. Es ist das Mindeste, was ich tun kann. Und das Meiste.
Wir verlassen die Kerker und betreten den Bereich der Kolonialherren. Die Räume sind groß, luftig und mit einer wunderschönen Aussicht auf das Meer und die Stadt. Hier oben ist das Leben schön.
Beim Anblick dieser Schönheit wird mir klar, wie nah Himmel und Hölle beieinanderliegen – dass sie manchmal sogar eins sind. Es fällt mir unglaublich schwer, so einen schönen Ort mit einem so düsteren Kapitel der Menschheit zusammenzubringen. Ich sehe all die Schönheit – die Weite des strahlend blauen Meeres, kleine schwimmende Boote auf dem Wasser und das Treiben der Stadt – und schaue mit einem zweiten Blick wortwörtlich unter die Oberfläche und sehe all das Leid, das hier verursacht wurde. Es ist schwer, die Schönheit dieses Ortes auszublenden. Aber es ist genauso schwer, den Ort mit den gleichen Augen zu sehen, wenn ich um die Geschichte weiß.
Cape Coast Castle zeigt mir, was ich schon länger geahnt habe: Hinter allem Schönen verbirgt sich ein Abgrund. Alles Gute hat eine Schattenseite. Und auch alles Schlechte hat seine gute Seite. Cape Coast ist der Inbegriff davon.
Wir verlassen das Castle. Noch immer etwas geplättet von den Eindrücken und Emotionen stolpere ich in eine andere Welt hinein. Es ist der 6. März 2022. Ghana feiert seinen 65. Unabhängigkeitstag. Vor dem Castle feiern die Cape Coast Masquerades bunt, verrückt verkleidet, singend und tanzend ihr Land und versprühen dabei die pure Lebensfreude. Und auch hier bin ich gleichzeitig verwirrt und fasziniert von der Nähe von Freude und Leid und gleichzeitig deren Entfernung.
Langsam lasse ich die Vergangenheit von Cape Coast Castle los und lasse mich von den Feierlichkeiten in der Gegenwart mitreißen. Denn das Leben ist schön, auch wenn es nicht immer schön ist.
Danke für die eindringlichen Bilder. Eine Kirche buchstäblich auf Rassismus gebaut. Wahnsinn!
Das, was dort unmittelbar übereinander existiert, ist allerdings auf der ganzen Welt zu finden. Wir mögen die prächtigen Bauten in Amsterdam oder London bestaunen und hören, die seien dem Reichtum durch Handel zu verdanken.
Doch womit wurde gehandelt? Auch mit Sklaven.
Und warum konnte überhaupt gehandelt werden? Weil es Handelspartner gab. In den USA war dafür die Voraussetzung Sklavenarbeit. In Afrika und Asien war die Voraussetzung militärische Präsenz der jeweiligen Imperien. Die Niederlande oder England haben ihre Handelspartner nicht einfach eingeladen, sondern den Handel gefordert. Mit militärischer Gewalt.
Wo wir also hinblicken und Reichtum und Schönheit bestaunen... wir müssen uns wohl bewusst sein, dass wenn nicht alles, dann aber doch vieles davon auf einem Berg von Leid und Leichen gebaut ist. Dass wir Paläste bestaunen können, haben andere mit ihrem Leben bezahlt. Sie wurden geopfert.
Und das gilt für säkulare wie religiöse Paläste.
Seitdem ich in Venedig war und mir das klar geworden ist, habe ich die Lust verloren, solche Orte zu bestaunen.