Als eine der drei großen Gattungen der Literatur ist Lyrik wohl den meisten ein Begriff. Trotzdem wird es oft nicht viel konkreter als „Lyrik ist das mit den Gedichten“. Eine genaue Definition scheint demnach schwierig zu sein. Was genau ist also Lyrik? Was macht sie aus? Warum ist sie für viele so schwer zugänglich und begreifbar?
Ich habe für mich eine Antwort auf diese Fragen gefunden: Lyrik drückt durch Sprache aus, was durch Sprache nicht ausgedrückt werden kann. Dabei wird dieses Paradoxon überwunden, indem Sprache in Form und Wortwahl sehr bewusst verwendet wird und dadurch oft eine irritierende Wirkung hat.
Die erste Frage, die sich stellt, ist, was durch Lyrik ausgedrückt werden soll. Im Gegensatz zur Prosa will Lyrik nicht informieren. Es geht nicht um Zahlen, Daten oder Fakten. Durch Lyrik soll vielmehr ein Gefühl, eine Emotion ausgedrückt und vermittelt werden. Aus Emotionen heraus konstruiert jeder für sich seine Sicht auf die Welt, woraus sich wiederum Erfahrungen ergeben. Deshalb entsteht der Drang zum Schreiben, meiner Meinung nach, immer aus einem Gefühl heraus. Dieses und somit auch die Erfahrung werden durch das Schreiben verarbeitet. Beim dem Rezipierenden werden wiederum Emotionen ausgelöst. Dabei kann es sich um Emotionen handeln, die er schon aus eigener Erfahrung erlebt hat oder aber, es sind Emotionen und Erfahrungen, die ihm bis jetzt unbekannt waren, die sich nun aber durch einen lyrischen Text erschließen. Kurz gesagt: Lyrik will Emotionen und Erfahrungen ausdrücken und auslösen.
Nun drängt sich eine zweite Frage auf: Warum können Emotionen und im weiteren Sinne auch Erfahrungen nicht durch Sprache ausgedrückt werden? Ein Ausflug in die Neurologie würde an dieser Stelle zu weit führen – es sei daher nur so viel gesagt: Emotionen bzw. Gefühle und Sprachproduktion bzw. -verständnis werden in komplett verschiedenen Hirnarealen erzeugt und verarbeitet. Dabei laufen Prozesse der Emotionserzeugung und -verarbeitung zum Großteil unterbewusst ab, während sprachliche Prozesse eher bewusst ablaufen. Die dichtende Person versucht somit, sich das Unterbewusste bewusst zu machen und auszudrücken. Die rezipierende Person geht diesen Weg quasi rückwärts und versucht das Bewusste – das, was auf Papier geschrieben steht – ins Unterbewusste zu überführen.
Es ergibt sich nun folgendes Problem: Alles, was durch Sprache ausgedrückt wird, hat eine Bedeutung (oder sogar mehrere). Jedes Wort, jede Phrase, jeder Satz bedeutet etwas. Im Gegensatz zur Musik, wo ein einzelner Ton oder Akkord erstmal neutral ist und in sich keine Bedeutung trägt, so ist das bei Sprache nicht der Fall. Das heißt, wenn jemand ein Gedicht liest, dann werden auf einer ersten Instanz die Worte und deren Zusammenhänge wortwörtlich verstanden. Das lyrische Gedicht wird als Prosa-Text gelesen und verstanden. Ultimativ werden somit aber nur die oberflächlichen Informationen aus einem Gedicht entnommen. Um Emotionen und Erfahrungen nahezubringen steht der Dichter somit vor der Aufgabe, die reine Informationsverarbeitung von Worten zu umgehen – sowohl bei sich selbst als auch bei den Rezipierenden. Hier ein einfaches Beispiel zur Veranschaulichung:
„Der Berg ist groß und dunkel.“
Dieser Satz ist in Prosa geschrieben und jedem ist sofort klar, worum es geht. Die gegebene Information über den Berg wurde verstanden. Anders verhält es sich mit folgender Form:
„Der Berg:
Groß.
Dunkel.“
Die Information ist immer noch dieselbe, aber sie ist zweitrangig, denn die Wirkung ist nun eine ganz andere. Es geht jetzt vielmehr um die Stimmung, die Energie, um das Bild, das im Kopf entsteht. Es geht um Emotion, um Erfahrung. Und diese andere Perspektive auf die gleichen Worte wurde nur damit erreicht, dass das Verb weggelassen, einzelne Satzzeichen hinzugefügt und die Worte auf drei Verse aufgeteilt wurden. Durch die sehr bewusste Auswahl und Anordnung von Worten ist kein Lesefluss wie in der sonst gebräuchlichen Prosaform möglich. Die rezipierende Person wurde aus dem Lesefluss gebracht und das irritiert zunächst einmal. Die Lösung für unser Problem der normalerweise sofortigen Bedeutungszuschreibung beim Lesen von Worten, lautet Irritation. Denn durch diese Irritation drängen sich dem Rezipierenden nun ganz andere Fragen als sonst auf: Warum wurden gerade diese Wörter ausgewählt? Warum wurden sie genau so angeordnet? Sind die Wörter wörtlich zu verstehen oder steckt da vielmehr noch eine ganze andere Bedeutung hinter? Was wollte der Dichter vielleicht damit ausdrücken? Was für ein Gefühl löst das Gedicht in mir aus?
Was nun deutlich wird, ist, dass es beim Verstehen von Lyrik nicht damit getan ist, sie einfach nur zu lesen. Sondern man muss sich als Rezipient damit beschäftigen, darüber nachdenken, in das Gedicht eintauchen und es in der Tiefe ergründen, wenn man die Essenz eines Gedichts und damit die darunter liegende Emotion und Erfahrung wirklich verstehen, also auch fühlen will. Der Energieaufwand sowohl des Dichters als auch des Rezipierenden ist bei einem Gedicht deutlich höher als bei einem vergleichbaren Prosa-Text. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es unglaublich schwer ist, für bestimmte Gefühle, die richtigen und wirklich passsenden Worte zu finden. Und genauso schwer ist es, ein Gedicht wirklich zu verstehen, jeden einzelnen Vers aufzudröseln und zu überlegen, was den Worten eigentlich zu Grunde liegt. Es bleibt daher nur noch zu sagen: Es ist höchste Kunst, zu beschreiben, was unbeschreiblich ist. Und es ist auch höchste Kunst, das beschriebene Unbeschreibliche zu verstehen.
Die Worte so wirr
Singen vom Unsagbaren.
Lyrik geht ans Herz.😁