tolerare (lat.): Aushalten, Ertragen, Erdulden
Toleranz – ein Wert, der in unserer Gesellschaft stets hochgehalten wird und dessen Verkörperung so einfach erscheint. Aber das stimmt nicht. Toleranz ist immer mit Leid verbunden.
Kwesi, ein Drittklässler, hat ein Mädchen geschlagen. Ich habe es nicht gesehen. Als Strafe muss er vor der ganzen Klasse eine Kniebeuge mit ausgestreckten Armen halten. Minutenlang. Still laufen ihm Tränen über sein angestrengtes Gesicht. Er versucht mehrmals, sich selbst zu entlasten, indem er weniger stark in die Knie geht. Madame Gifty droht ihm immer wieder mit dem Stock und befiehlt ihm, wieder tiefer in die Knie zu gehen. Er fügt sich – auf seinem Gesicht vermischt sich Anstrengung mit Angst und Verbissenheit.
Der Unterricht geht normal weiter. Niemanden stört es.
Ich kann nicht mehr. Alles zieht sich in mir zusammen. Meine Augen füllen sich mit Tränen, und ich fange an zu weinen. Still leidet mein Herz mit diesem kleinen Jungen. Ich möchte ihn am liebsten in den Arm nehmen, ganz doll drücken und ihm all die Liebe schenken, die ich gerade zu geben habe. Ich möchte ihm sagen, dass alles gut wird.
Aber ich kann nicht – ich darf nicht.
Ich versuche, die Tränen weg zu blinzeln und korrigiere mit gesenktem Kopf die Aufgaben der Kinder weiter. Madame Gifty spricht mich wegen etwas an – sie bemerkt, dass ich weine. Sie fragt warum. Ich sage, dass es wegen Kwesi’s Strafe ist. Sie sagt ihm, dass er mit der Kniebeuge aufhören kann. Sie macht es, weil ich weine – nicht, weil es genug wäre. Wahrscheinlich hätte sie ihn noch viele weitere Minuten so stehen lassen. Mehrmals entschuldigt sie sich bei mir, dass sie mich zum Weinen gebracht hat. Unter Tränen sage ich ihr, dass sie sich nicht entschuldigen muss. Ich sage ihr, dass ich solche Methoden nicht gewöhnt bin und es hart für mich ist, ihn leiden zu sehen. Sie sagt, dass ich kein Mitleid mit ihm haben soll. Sie sagt, dass die Eltern des Mädchens hören wollen, dass Kwesi bestraft wurde. Ich sage ihr, dass man nicht nichts tun kann, aber auch, dass ich es anders regeln würde. Ich sage ihr, dass ich ihr Handeln tolerieren muss, denn es ist nicht mein Platz zu urteilen.
Ich beruhige mich langsam, aber ich bin immer noch durch den Wind. Kwesi ist in dem Meer aus Kindern mit blauen Uniformen verschwunden. Lange suche ich ihn mit den Augen. Erst als ich ihn finde und sehe, dass es ihm „gut“ zu gehen scheint, kann ich mich wieder auf den Unterricht konzentrieren, ohne gleich wieder Tränen in den Augen zu haben.
Photo by Road Trip with Raj on Unsplash