Jedes Land, jede Kultur hat seine eigenen Werte. Diese werden der nächsten Generation unter anderem auch in den Schulen vermittelt. Einen Wert, der an meiner ghanaischen Schule besonders geschätzt wird, ist Respekt bzw. Gehorsam.
Diese Werte werden durch implizite und explizite Normen verkörpert und vermittelt. Lehrpersonen sind klare Autoritätspersonen. Schüler begrüßen sie oft mit einem kurzen Handgruß und Schülerinnen machen einen kleinen Knicks – in jedem Fall muss die Lehrperson begrüßt werden. Sie werden mit Sir bzw. Madam angesprochen. Im Unterricht werden Sätze wie „Listen to me and listen good“ häufig verwendet. Die SuS müssen, wenn sie etwas im Unterricht sagen, aufstehen. Alle Lehrkräfte haben eine sehr laute Stimme und schreien häufig auch. Die SuS hingegen sprechen immer extrem leise, sodass häufig weder die Lehrperson noch die anderen 59 SuS eine Möglichkeit haben, etwas zu verstehen. Durch die autoritäre Präsenz der Lehrperson wirkt dann die Aufforderung zum lauteren Sprechen oft vielmehr einschüchternd als ermutigend. Auch wenn das auch abhängig ist von den einzelnen Lehrerpersönlichkeiten, so ist doch oft zu beobachten, dass Empathie für den Umgang mit den SuS im Unterricht (!) als unwichtig erscheint – es wird zwar gelobt, aber die Ausstrahlung gegenüber den SuS ist nicht positiver und herzlicher Natur. Außerhalb des Unterrichts ist das Verhältnis dafür teilweise sehr vertraut und herzlich. Die Rolle der Lehrperson wirkt somit ambivalent, da sie in einem Moment mit den SuS scherzen, aber schon im nächsten Moment mit dem Stock drohen. Die Machtposition der Lehrer*innen wird auch dadurch deutlich, dass einzelne SuS häufig mit außerunterrichtlichen Aufgaben betraut werden – den Tisch oder die Tafel putzen, korrigierte Hefte in Schränke einsortieren oder Aufgaben selbst korrigieren, Essen für Lehrpersonen kaufen oder Wasser zum Hände waschen holen. Auch wenn in Deutschland SuS mal zum Kreideholen geschickt werden, so empfinde ich es in Ghana als extremer, da sich die Lehrkräfte gefühlt wie König*innen behandeln lassen. Im Zweifelsfall hat die Lehrperson immer Recht und es gilt, sich deren Willen zu beugen und gehorsam zu sein. Auch der fast ausschließliche Frontalunterricht trägt dazu bei, dass Lehrer*innen durch ihr vermeintlich größeres Wissen ihre höhere Position unterstreichen.
Eine mögliche Form der Exekution von Respekt und Gehorsam ist die immer noch weit verbreitete physische Bestrafung. Dabei ist die Bestrafung und die Androhung von Strafen hier nicht nur ein Mittel, sondern auch eine anerkannte Norm, die von Eltern, SuS und Lehrpersonen allgemein akzeptiert ist. Respekt und Gehorsam können so nochmal auf einer ganz anderen Ebene eingefordert werden. Auch SuS haben mir von sich aus schon vorgeschlagen bzw. geraten, den Stock zu gebrauchen.
Aus der Sicht der Lehrperson kann ich sehr gut verstehen, dass die Werte Respekt und Gehorsam und die damit einhergehenden vielen kleinen Normen praktiziert werden. Doch ich frage mich, wie viel Respekt nötig ist. Denn Respekt ist nicht gleich Respekt. Den Respekt, den ich gegenüber einer Freundin habe, ist ein anderer als der gegenüber einer Lehrkraft.
Zwischen Lehrer*innen und SuS gibt es immer ein Machtgefälle. Die Machtverteilung in der Schule entsteht auf der Basis, dass allgemein anerkannt ist, dass ältere Menschen mehr wissen als Kinder. Ansonsten wäre unser Prinzip der Erziehung komplett hinfällig. Wenn also dieses Prinzip nicht umgestoßen werden soll, so haben Lehrende automatisch eine höhere Position als Schüler*innen. Die Frage ist nun, wie mit dieser ungleichen Machtverteilung umgegangen werden soll. Sowohl in Deutschland als auch in Ghana sind Lehrende Respekts- und Autoritätspersonen, doch die Umsetzung ist unterschiedlich. Während in Ghana die Demonstration der eigenen Autorität unter anderem durch Bestrafung sehr klar kommuniziert wird, ist sie in Deutschland verschleierter. Die Lehrer*innen versuchen hier, mehr mit den SuS auf Augenhöhe zu agieren, bewerten aber auf der anderen Seite die SuS weiterhin mit Noten und entscheiden damit über deren Werdegang. Welcher Ansatz besser ist oder ob es überhaupt einen Besseren gibt, kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht beurteilen.
In jedem Fall halte ich die physische Bestrafung für unangebracht, auch wenn ich bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen kann, warum sie angewandt wird. Da die Klassen sehr groß sind, muss auf mehr Kinder auf einmal eingegangen werden, was in der Praxis unmöglich ist. Gegenüber einer größeren Gruppe muss jedoch die Machtposition der Lehrenden stärker anerkannt sein oder – und das ist hier eher der Fall – stärker eingefordert werden. Auch wenn die Machtposition der Lehrenden legitimiert ist, so bedarf es trotzdem der Einforderung von Respekt und Gehorsam. Mittel dafür sind die eigene (autoritäre) Ausstrahlung und didaktische Fähigkeiten. Wenn diese fehlen, dann wird es schwierig die Machtposition zu halten und das ist noch schwieriger bei großen Klassen. Eine einfache und effektive Methode zur Demonstration der Macht ist dann die physische Bestrafung.
Es gibt viele Alternativen zur physischen Bestrafung, um Respekt und Gehorsam einzufordern – z.B. SuS umsetzen, SuS des Unterrichts verweisen, SuS Reflexionsaufgaben zu ihrem eigenen unangebrachten Verhalten stellen, Extraaufgaben, Gespräche mit SuS, Eltern und Klassenlehrer*innen führen oder mit Belohnungen arbeiten.
Doch die Grundprobleme – mangelnde Ausbildung der Lehrkräfte und zu wenig Geld für Bildungseinrichtungen – sind damit nicht behoben. So ist die physische Bestrafung oft ein Akt der Verzweiflung und Überforderung im Angesicht der großen Anzahl an SuS in einer Klasse.