Flügel
Ich richte meine Aufmerksamkeit auf etwas. Ich strecke meine Hand danach aus. Ich greife danach. Ich halte es fest. Dieses Etwas ist schön, deshalb halte ich es fest. Und es ist schön, dieses Etwas festzuhalten. Doch daran festzuhalten wird irgendwann schmerzhaft. Ich möchte loslassen. Doch wie kann ich loslassen, ohne zu fallen? Denn ich halte nicht dieses Etwas fest, ich halte mich fest. Dieses Etwas hat von mir Besitz ergriffen – nicht ich vom Etwas. Es hat mir den Boden unter den Füßen genommen. Ich kann nicht anders – ich muss mich daran festhalten. Doch ich möchte loslassen. Wie kann ich loslassen, ohne zu fallen? Noch kann ich mich halten, der Schmerz ist noch aushaltbar. Ich schaue mich um. Ich kann mich vielleicht an etwas anderem festhalten. Nein. Da ist nichts. Ich bin allein. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich möchte loslassen. Doch wie kann ich loslassen, ohne zu fallen? Auf diesem Etwas liegt mein Fokus. Auf diesem Etwas liegt meine Aufmerksamkeit. Auf dieses Etwas gerichtet ist meine gesamte Energie. Meine Hand hat den restlichen Körper, das restliche Ich vergessen. Nein. Ich habe mich selbst vergessen, mich selbst ignoriert, mich selbst nicht beachtet – oder nicht genug beachtet. Ich möchte loslassen. Doch wie kann ich loslassen, ohne zu fallen? Es braucht Zeit, viel Zeit, doch langsam, ganz langsam… richte ich meinen Fokus auf mich, richte ich meine Aufmerksamkeit auf mich, richte ich meine Energie auf mich. Ich nehme mich als Ganzes wieder wahr. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass meine Hand lockerer wird. Ich werde schwer und weich zugleich. Alle Anspannung fällt von mir ab. Ich bin präsent im Moment, geerdet, ruhend in mir. Ich komme bei mir selbst (wieder) an. Und lasse dadurch los. Aber ich falle nicht – ich fliege. Denn mir sind Flügel gewachsen.
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