Heute habe ich Felix kennengelernt. Felix ist 21, Alkoholiker und drogenabhängig. In den wenigen Minuten, in denen ich mit ihm gesprochen habe, hat er mir mehr von sich und vom Leben gezeigt, als so manch anderer in drei Stunden. Auch wenn er vielleicht auf den ersten Blick nicht so wirken mag (er kann sich kaum auf den Beinen halten), ist Felix ein Korrekter – er hat das Herz am rechten Fleck. Er will nicht um Geld betteln, obwohl er welches braucht, er siezt mich, obwohl ich klar in seinem Alter bin, er merkt selbst, dass manche seiner Bemerkungen so rüberkommen, als ob er mich anbaggern würde, er macht mir Mut, dass auch für mich irgendwann der Richtige kommen wird, obwohl grad eher er derjenige ist, der jemanden braucht. Er sagt, er will sein Leben wieder auf die Reihe kriegen – er muss – er erzählt von seiner Schwester und dass er zu seiner Mutter nach Berlin fahren will. Ich sage ihm, dass er sich therapeutische Hilfe suchen sollte, er stimmt mir zu, und meint, dass ich ihn an seine frühere Therapeutin erinnere. Ich gebe ihm ein bisschen Geld, damit er sich eine Fahrkarte kaufen kann, wir umarmen uns zum Abschied.
Auch als er schon längst fort ist, begleitet er mich noch länger in meinen Gedanken. Auf einmal fallen mir tausend Sachen ein, die ich ihm noch hätte sagen, mit auf den Weg geben, können.
Ich hätte entspannter sein können, weniger abweisend in der Körperhaltung, empathischer im Lächeln, ich hätte ihm noch weitere Hilfe anbieten können. Ich hätte gern noch so viel mehr gesagt und getan. Doch aus den verschiedensten Gründen konnte ich nicht – weil es mir in dem Moment nicht eingefallen ist, weil ich unsicher war, weil ich es schlichtweg nicht besser wusste. Und ich muss mich in dieser Abwärtsspirale an Selbstverurteilung aktiv selbst zur Ordnung rufen. Denn es ist alles okay – ich habe mein Bestes getan und ich muss darauf vertrauen, dass es genug war. Ich weiß, dass es genug war, seine Dankbarkeit hat es mir gezeigt. Und trotzdem kann ich diese Gedanken nicht verhindern.
Und noch ein weiterer, viel universellerer Gedanke trifft mich: Das Leben ist hart und definitiv nicht fair. Das hat mir Felix vor Augen geführt.
Ich fühle mit ihm mit, frage mich, was er alles durchgemacht haben muss, um an diesen Punkt gekommen zu sein. Ich urteile und verurteile nicht, sondern erkenne, verstehe und fühle ein ums andere Mal, dass auch er tief in ihm verborgene Gründe hat, die ihn schon im so jungen Alter an den äußersten Rand seiner Kräfte getrieben haben und immer noch treiben. Seine Drogenabhängigkeit ist schlichtweg Ausdruck seiner tiefen Verzweiflung und Erschöpfung und der Versuch, in einen kurzen Traum aus angenehmen Gefühlen zu flüchten, bevor ihn die Realität wieder mit voller Wucht trifft. Denn die Realität ist nicht schön – für die wenigsten Menschen ist sie das.
Und so bleibt mir nichts weiter übrig, als Felix zu wünschen, dass er Menschen trifft, die ihn lieben, ihn unterstützen und ihm helfen, sich und seinen Platz in dieser Welt zu finden.
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