Besonders
Für viele Menschen mag es das banalste, das normalste, das selbstverständlichste überhaupt auf der Welt sein, in einer Beziehung zu sein. Für mich ist es das nicht – nie gewesen. Seit ich sechzehn bin, wünsche ich mir nichts sehnlicher als einen Freund. Jemanden, der zu mir gehört. Man könnte meinen, dass ich einen Freund will, weil ich mit ihm Händchen halten will, weil ich mit ihm Kuscheln will und auf Dates gehen will, weil ich ihn küssen will, weil er für mich die wichtigste Person auf der Welt ist und ich ihn auf keinen Fall missen möchte. Aber so war es nicht bei mir.
Ich hatte nicht diesen rosaroten überromantisierten Vorstellungen, wie ich mit jemandem an meiner Seite spazieren gehe, wir uns tief in die Augen schauen, uns küssen und uns „Ich liebe dich“ sagen. Zumindest nicht, dass ich mich erinnern würde…
Die Wahrheit ist: Ich wollte einen Freund, weil alle anderen einen hatten. Ich wollte einen Freund, weil es die Gesellschaft so von mir erwartet hat bzw. ich dachte, dass es das ist, was sie von mir erwartet. Ich wollte mit jemandem zusammen sein, weil man das so macht, wenn man jung ist. Man verliebt sich, dann gibt’s nen paar Turbulenzen, da man ja nicht weiß, ob er einen auch mag, alles ist super aufregend, aber irgendwie kommt man dann doch zusammen und Ende gut alles gut. Ich wollte einen Freund, weil ich dachte, dass es mich interessanter macht, dass es mich liebenswerter, geschätzter, höherwertiger macht.
Und genau das ist es, warum ich nie einen bekommen habe.
Man könnte jetzt meinen, dass ich dann ja doch eigentlich nicht wirklich einen Freund wollte – aber das wäre nun auch zu kurz gegriffen.
Ja, doch, ich wollte unbedingt einen Freund! Das ist es, was sich meine Seele am meisten gewünscht hat. Und diesen Wunsch habe ich immer genau dann gemerkt, wenn ich mich einsam gefühlt habe. Denn ich wollte das, wofür ein Freund steht.
Liebe.
Und wie oft habe ich gedacht: „Jetzt aber – diesmal wird das was!“ und immer und immer wieder hat mich das Universum eines Besseren belehrt. Es hat mich zwar jedes Mal ein bisschen näher ans Ziel kommen lassen, aber dann doch immer dran vorbeischrammen lassen.
Aber ich war noch nicht bereit. Musste mich noch von Ballast befreien, mich von den gesellschaftlichen Erwartungen verabschieden genauso wie von meinen unrealistischen Vorstellungen wie es ist, einen Freund zu haben. Ich musste mich auch von unrealistischen Vorstellungen von mir selbst verabschieden, musste einen Zugang zu meinen Gefühlen finden, musste mich öffnen, und musste mir unbequeme Wahrheiten eingestehen. Ich musste mich in vielen Gedanken-Karussells unendlich lang drehen, musste viele lange, tiefe und erkenntnisreiche Gespräche führen, musste Unmengen an weisen Sprüchen lesen, musste mich durch Videos und Artikel mit Themen wie Traumata, Bindungstheorie, attachment styles und Beziehungsdynamiken beschäftigen. Ich musste das tun, was ICH wollte und sonst niemand anderes, musste mir darüber klar werden, dass ich nicht perfekt bin, dass auch ich Fehler habe und super anstrengend sein kann, musste mich selbst und meine inneren Konflikte, Probleme und Trigger kennen- und verstehen lernen, und musste all das in vielen vielen Stunden reflektieren und verarbeiten. Ich musste viele Tränen der Traurigkeit aber auch der Dankbarkeit weinen, musste meditieren, kurz gesagt: Ich musste Heilung finden.
Ich weiß, dass dieser Weg der Heilung, auf dem ich mich befinde, unendlich ist. Dass ich niemals vollständig geheilt sein werde. Aber ich weiß auch, dass die Version, die ich heute bin, so viel heiler ist als die Version von mir von vor fünf Jahren als meine Reise zu mir selbst begann.
All das, was ich in den letzten Jahren auf diesem Weg für mich getan habe – immer irgendwie mit dem Ziel in mir, einen Freund zu haben – kann ich erst jetzt so richtig sehen und mir dafür Credit geben. Erst jetzt, wo ich mein Ziel erreicht habe und in einer Beziehung bin – und ich weiß, dass die Beziehung nicht das Ende ist, sondern erst der Anfang – erst jetzt kann ich dankbar sein für all die Irrungen und Wirrungen in den letzten Jahren. Erst jetzt sehe ich, wie viel ich geleistet habe. Wie weit ich gekommen bin. Wie stark ich mich entwickelt habe. Wie krass diese 180 Grad Drehung ist, die ich hingelegt habe.
Vor vielen Jahren meinte der damalige Freund von meiner besten Freundin zu ihr, dass das bei mir mit nem Freund noch ein paar Jahre dauern würde. Dass ich jemanden im Studium kennenlernen würde, der mich wie bei einer Knospe Blatt für Blatt aufpulen würde, bis ich in voller Blüte stehen würde. Wie recht er damit doch hatte. Wie viel er da in mir gesehen hatte, was ich selbst noch gar nicht über mich wusste. Doch bei einer Sache hat er sich geirrt: Es war nicht jemand von außen, der mich Stück für Stück aufpulen musste, sondern das meiste habe ich selbst getan. Da gab es keinen Ritter in der schimmernden Rüstung, der mir den Weg gezeigt hat. Ich habe mir selbst den Weg gezeigt bzw. vielmehr gebaut. Und jetzt, wo mein Weg klarer ist, weil ich klar bin, kann sich auch jemand zu mir gesellen und mich begleiten, wo auch immer mich dieser Weg hinführen mag.
Ich habe meine Zeit gebraucht, viel Zeit, und oft habe ich mich selbst dafür verurteilt und mich gefragt, warum ich das mit einer Beziehung nicht hinbekomme. Doch jetzt ist die Zeit gekommen und ich bin unfassbar dankbar für all die Erfahrungen, die ich bis hierhin sammeln durfte und die kleinen und großen Erkenntnisse, die ich im Laufe der letzten Jahre hatte. Mein Weg erinnert mich an dieses japanische Sprichwort:
„Wenn du es eilig hast, geh langsam. Wenn du es noch eiliger hast, dann geh’ einen Umweg.“
Ich hatte es wohl sehr eilig…
Aber ich glaube, dass jetzt die Zeit des Ankommens gekommen ist. Wobei Ankommen niemals Stillstand ist – vielmehr ein Runterkommen, Annehmen, Atmen, Sein.
Der Weg ist noch lang und ich habe gerade erst begonnen, ihn nun mit jemandem an meiner Seite zu gehen. Es ist gleichzeitig das Leichteste und das Herausforderndste, was ich je getan habe. Es ist besonders.
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